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Viktor von Weizsäckers Forderung einer ärztlichen Vernichtungslehre

V. v. Weizsäcker hätte gerade in der Anfangszeit des Nationalsozialismus den Begriff der "Vernichtungslehre" keinesfalls verwenden dürfen. Dies musste wie eine Rechtfertigung der bereits lange zuvor begründeten "Vernichtung lebensunwerten Lebens" (K. Binding und A. Hoche, 1920) klingen. Dieses Missverständnis hätte V. v. Weizsäcker nicht billigend in Kauf nehmen dürfen. Er hatte scheinbar in den Jahren 1933 bis 1935 die politisch naive, aber in ihrer öffentlichen Wirkung verheerende Hoffnung, diesen Begriff einfach umdeuten und damit die mit ihm verbundenen medizinischen Vorstellungen in seinem Sinne beeinflussen zu können. Dies konnte nur dazu beitragen, inhaltlich missverstanden zu werden und damit stattdessen diejenigen Vorstellungen zu befördern, die wenige Jahre später in Form der Euthanasie grausam realisiert wurden.

 

Jenen Begriff einer ärztlichen Vernichtungslehre verwendete V. v. Weizsäcker auf exakt sechs Seiten einer Vorlesung von 1933 in Heidelberg (V. v. Weizsäcker, 1933, S. 323-326 und 328-329). Danach taucht er bis zum Kriegsende 1945 in keinem seiner Texte mehr auf. Ab 1935 hat er sich auf seine Gestaltkreisforschung zurückgezogen. Dies soll seine Mitverantwortung für die ideologische Ausbreitung des Nationalsozialismus keineswegs relativieren. Immerhin war gerade das Jahr 1933 dasjenige, in dem die Nationalsozialisten nach ihrer Übernahme der Macht diese entscheidend konsolidierten und jegliche parlamentarische Opposition ausschalteten. Gerade in dieser Phase wäre - statt des Schweigens und der terminologischen Anpassung - der öffentliche Protest und Widerstand auch von Seiten der Hochschulen wichtig gewesen.

Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass V. v. Weizsäckers Formulierungen inhaltlich ganz andere Gedanken als die der Nationalsozialisten zum Ausdruck brachten. Wir dürfen nicht das von V. v. Weizsäcker ermöglichte Missverständnis nochmals reproduzieren. Stattdessen müssen die Sätze, in denen dieser Begriff auftauchte, im Zusammenhang der gesamten Argumentation V. v. Weizsäckers gelesen werden, um erkennen zu können, dass V. v. Weizsäcker mit ihnen ganz anderes  als die Euthanasie anstrebte. Trotz der geschilderten Problematik wird im Folgenden weiterhin der Begriff "Vernichtung" verwendet. Denn nur über ihn lässt sich klären, was V. v. Weizsäcker mit seiner Verwendung ausdrücken wollte.

 

Die grundsätzliche Intention der ärztlichen Vernichtungslehre V. v. Weizsäckers: Die unumgänglichen ärztlichen Vernichtungsmaßnahmen klar zu definieren, um sie zu begrenzen und ihre schleichende Ausbreitung zu verhindern, wird auf der folgenden Unterseite anhand der Original-Texte noch detaillierter belegt. Sie ist keineswegs eine offene Frage der jeweiligen Interpretation oder einer apologetischen Einstellung gegenüber V. v. Weizsäcker, sondern durch ein genaues Text-Studium eindeutig belegbar! In einem vorausgehende Kapitel derselben Vorlesung von 1933 formulierte V. v. Weizsäcker einen Satz, den er im Druck sogar durch Kursivdruck hervorheben ließ. Er muss als der explizit betonte Hintergrund dessen angesehen werden, was er darauf aufbauend als "Vernichtungslehre" einforderte, und der durch sie keinesfalls aufgehoben werden sollte:

"Die konservative Grundhaltung entspricht also einer Naturordnung und überdies dem Geiste des Arzttums überhaupt. Wer Arzt wird, will nicht zerstören, sondern bewahren - sonst wäre er kein Arzt."

(V. v. Weizsäcker, 1933, GS Bd. 5, S. 301)

​Diese Grundthese der Argumentation V. v. Weizsäckers darf keinesfalls unterschlagen oder als Widersprüchlichkeit seiner Äußerungen in dieser Zeit abgewertet werden. Nur wer sie ernst nimmt, versteht, dass er und die Gesundheitspolitik zur Zeit der Nationalsozialisten von einer scheinbar gleichen These ausgehend - der Unvermeidbarkeit ärztlicher Maßnahmen der "Vernichtung" - eine diametral entgegengesetzte Schlussfolgerung daraus zogen:

 

- Die theoretischen Begründer und die praktischen Organisatoren der Euthanasie wollten mit dem Argument der Unvermeidbarkeit vernichtender Maßnahmen, deren Schrecken relativieren und sie als eine ganz natürliche, mit kühlem Verstand hinzunehmende Maßnahme verallgemeinern, um die emotionale Abwehr gegen ihre Ausweitung bis hin zum Massenmord in der Öffentlichkeit sowie im Empfinden des Einzelnen abzubauen.

- V. v. Weizsäcker dagegen wollte das Schreckliche, das er mit dem Begriff 'Vernichtung'  auch deutlich anzusprechen anstrebte, nicht abmildern, beschönigen oder gar als eine zu überwindene Gefühlsregung darstellen, sondern die mit ihm verbundene natürliche Abwehr erhalten, um die entsprechenden ärztlichen Maßnahmen wirksamer auf das lediglich unvermeidliche Ausmaß zu begrenzen. Genau deswegen hat er diesen Begriff auch nach dem 2. Weltkrieg in seinem Text "Euthanasie und Menschenversuche" (V. v. Weizsäcker, 1949) weiterhin gebraucht.

Die Nationalsozialisten dagegen strebten eine Überwindung und Beseitigung dieser mit dem Begriff "Vernichtung" verbundenen negativen Empfindungen an. Sie deuteten generell Gefühle als ein zu überwindendes Hindernis, welches den 'Willen zur Macht' nicht aufhalten dürfe. Die erste polnischen Arbeit über die Euthanasie in Lubliniec, welche auf die Zusammenarbeit mit dem Breslauer Institut hinweist (D. Moska 1975), erwähnt ausdrücklich den Kindergarten in Ciesszyn, in welchem die Nationalsozialisten mit einer ganz unvorstellbaren Grausamkeit versuchten, den Kindern jede Form von Gefühlsempfindungen oder Mitgefühl für den Anderen abzutrainieren, um sie später in Lagern als zu allem bereite Folterknechte einsetzen zu können.

"Im Kindergarten in Cieszyn ging es den Betreuern der Kinder um das Abtöten jeglicher menschlicher Gefühle. Sie sollten auf die künftige Funktion als nationalsozialistische Folterer ohne irgendeinen ethischen oder psychischen Widerstand vorbereitet sein."

(D. Moska, 1975, S. 112, Übersetzung A. Penselin)

 

Die Kinder wurden geschlagen und gekniffen, damit sie misstrauisch wurden und schließlich selbst nur noch mit bösartigen Instinkten​ reagierten. Sogar die Nahrungsaufnahme wurde zu einer qualvolle Prozedur mit definierten Körperhaltungen pervertiert (D. Moska, 1975, ebenda). Der Schrecken einen Anderen zu verletzen bis hin zu seiner Vernichtung  sollte also beseitigt und die Beteiligung daran als eine ohne innere Scheu ausführbare Reaktion übernommmen werden. Vergegenwärtigt man sich die tägliche Routine, mit der E. Buchalik tödliche Luminaldosierungen für die ihm anvertrauten Kinder verschrieb und E. Hecker diese Kinder zuvor selektierte, sowie als Untersuchungsobjekte für ihre Forschung misshandelte, so zeigt dies, dass manche deutsche Ärzte diese Haltung damals bereits weitgehend angenommen hatten. Wichtig bleibt festzuhalten, dass die Nationalsozialisten bei einer ausreichenden Anzahl an Ärzten die für ihre Menschenverbrechen notwendige emotionalen Kälte gar nicht erst erzeugen mussten, sondern diese bereits vorfanden. Wer also ihre Ursachen klären will, wird sie nicht ausschließlich in speziellen nationalsozialistischen Ideologien oder Zwangsmaßnahmen finden.

Trotzdem sei nochmals betont: Im historischen Kontext einer sich an der Macht stabilisierenden nationalsozialischen Regierung war es unverantwortlich, das mit dem Begriff einer "ärztliche Vernichtungslehre" zwangsläufig verbundene und von den Machthabern ausnutzbare Missverständnis billigend in Kauf zu nehmen. Weizsäcker ist in den Jahren 1933 - 1935 einer offenen Konfrontation mit den Nationalsozialisten gezielt ausgewichen. Stattdessen hat er sich terminologisch angepasst, um seinen ärztlichen Gedanken einen erhöhten Einfluss zu verschaffen. Die Wirkung seiner Formulierungen auf die Öffentlichkeit konnte nur verheerend sein, statt dem Gehör zu verschaffen, worum es ihm inhaltlich ging. Er scheint sich in diesen Jahren sogar der illusionären Hoffnung hingegeben zu haben, die neuen Machthaber für eine Förderung seiner sozialmedizinischen Ansätze ausnutzen zu können. Danach hat er sich in eine Art innere Emigration und Konzentration auf seine Gestaltkreis-Forschung zurückgezogen. Die Terminologie der Jahre 1933/34 verschwindet ab Ende 1935 wieder aus allen seinen Texten und taucht bis 1945 nirgends mehr auf. Aber auch in dieser Hinsicht ist es wichtig, V. v. Weizsäckers Verantwortung korrekt zu bestimmen. Nur dann wird eine historisch bedeutsame Folgerung ableitbar: Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir insgeheim zwischen den Zeilen formuliert meinen, sondern auch dafür, was wir aus Gründen der Anpassung an die öffentliche Meinung in unseren Zuhörern und Lesern auslösen, oder unwidersprochen geschehen lassen.

 

Der heute gebräuchliche Begriff "Sterbebegleitung" bezeichnet daher passender, was V. v. Weizsäcker im Kern meinte. Denn dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch seine Schriften vor und nach 1933: Die Anerkennung der Teilhabe des Todes am Leben, welcher auch kein Arzt im Umgang mit Kranken auszuweichen vermag.

"Sterben bedeutet Wandel ermöglichen. Der Tod ist nicht der Gegensatz zum Leben, sondern der Gegenspieler der Zeugung und Geburt; Geburt und Tod verhalten sich wie Rückseite und Vorderseite des Lebens, nicht wie logisch einander ausschließende Gegensätze. Leben ist: Geburt und Tod. Das ist eigentlich unser Thema."

(Weizsäcker, 1940, S. 83)

Gerade wenn der Tod das Leben nicht einfach nur zeitlich - eine scharfe Grenze zwischen beiden markierend - beendet, sondern neben Zeugung und Geburt mitten im Leben präsent ist (beispielsweise durch permanentes Zellsterben und erneute Zellbildung), dann ist - ebenfalls im Sinne V. v. Weizsäckers - selbst bei einem unter Schmerzen Sterbenden nicht der mögichst schnell herbeigeführte Tod das Ziel - im Sinne einer Sterbehilfe - sondern die Sterbebegleitung, die das Sterben als zum Leben dazugehörig annimmt. Was heute nicht nur Ärzte sondern vor allem Pflegekräfte in Hospitzen für Sterbende tagtäglich leisten, ist in genau diesem Sinne von unschätzbarem Wert. Ihre Anerkennung sollte sich nicht auf salbungsvolle Worte oder Händeklatschen beschränken, sondern die Bereitstellung der hierfür notwendigen Rahmenbedingungen, sowie eine angemessene Entlohnung beinhalten. Ein zutreffendes Verständnis der Gedanken V. v. Weizsäckers liefert nicht nur theoretische Einsichten in philosophischer Hinsicht, sondern konkrete Forderungen an die aktuell für unser Gesundheitssystem Verantwortlichen. Nur wenn die Arbeit der Pflegenden endlich angemessen entlohnt wird, werden sie zukünftig in dem dringend notwendigen Umfang zur Verfügung stehen.

Die weitere Darstellung der Gedanken V. v. Weizsäckers erfolgt auf zwei Unterseiten. Die eine beschreibt V. v. Weizsäckers Forderung nach einer "ärztlichen Vernichtungslehre", indem sie Schritt für Schritt den Gedankengang anhand des entsprechenden Textes aufzeigt. Die andere Unterseite beinhaltet eine vollständige Sammlung aller entsprechenden Zitate.
 

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